Ohne leibliche Kinder, heisst nicht, ohne Kinder zu leben
Die Geschichte von Corinna
Ich bin heute 66 Jahre alt und lebe ein Leben ohne leibliche Kinder – aber kein kinderloses Leben. Meine Entscheidung, kein leibliches Kind bekommen zu wollen, hat sich nicht «ergeben», wie es oft heißt. Es war eine schwierige Entscheidung, die sich entwickelt hat. Davon möchte ich erzählen.
Als ich zwischen 30 und 40 Jahre alt war, hat mich auf der einen Seite alles Mögliche gereizt. Unterschwellig, aber hat mich die Kinderfrage damals sehr beschäftigt. Aber eigentlich vor allem deshalb, weil es zu dieser Zeit keinen solchen Diskurs gab, wie er heute unter jungen Frauen geführt wird. Die Entscheidung, kein Kind bekommen zu wollen, wurde nicht öffentlich diskutiert.
Dieses Zögern begann in Paris. Damals war ich, mit 27 Jahren, Au-pair und meine Kommunikation mit dem dreijährigen Louis war auf radebrechendes Kinderfranzösisch reduziert. Auf Spielplätzen, in der Sandkiste und im kindlichen Spiel am Nachmittag fragte ich mich ernsthaft, was an diesem Leben beglückend sein soll. Ich fand es nur langweilig!
Auch mit 33 Jahren war ich mit vielen Fragen beschäftigt, aber eben gar nicht so sehr mit dem Wunsch nach Kindern. Inzwischen lebte ich in Berlin. Obwohl mich das Mutterdasein nicht reizte, lief dieses Thema immer mit, bei allen Plänen und Lebensentwürfen. Dabei interessierte mich eigentlich nur meine berufliche Entfaltung. Ich hatte Freude an meinem Engagement und meinen Talenten und Begabungen, die ich immer mehr entwickeln konnte.
Ich wollte beruflich an die Universität gehen, erst mal promovieren und vielleicht später habilitieren. Mein Ziel war es, Professorin oder Dozentin zu werden. Als mir meine intellektuellen Fähigkeiten offiziell bescheinigt wurden, war ich 36 Jahre alt und beendete, nach einer fünfjährigen Forschungsphase, meine Promotion mit Auszeichnung (summa cum laude). Mein Weg als Hochschulassistentin an die Uni war geebnet und ich wurde Dozentin am Institut für Soziale Arbeit der FU Berlin.
Als ich dann den «Mann meines Lebens» traf, ich war nun Ende 30, stellte sich die Kinderfrage noch einmal neu. Bis dahin hatte ich immer gedacht, dass ich auch deshalb noch keine Mutter wäre, weil ich ohnehin bislang den Mann dafür nicht gefunden hatte und alleinerziehend wollte ich nicht mit einem Kind leben. Unterschwellig wusste ich, dass ich mich entweder für eine Karriere an der Uni oder für das Leben als Mutter entscheiden müsste.
Ich spürte immer, dass ich durchaus auch mütterliche Ambitionen habe: Ich mag es, Menschen zu verwöhnen. Ich mag Kinder um mich haben und ich mag es, mit Kindern zu lachen und mit ihnen dummes Zeug zu erfinden. So wie bei vielen anderen Frauen auch, war ich nur an den erforderlichen Kompromissen zwischen meiner beruflichen Karriere und der Organisation einer Familie nicht interessiert. Dies ernst zu nehmen, fiel mir in meinen 30er-Lebensjahren schwer.
Ich habe meine berufliche Entfaltung gelebt. Ich war Aktivistin in der Frauenbewegung, habe an der Uni gelehrt, in der Praxis gearbeitet, ein eigenes Institut gegründet und bin dann irgendwann Dozentin an einer Fachhochschule geworden. Aus der Fülle dieser meiner Lebens- und Berufserfahrungen entwickelte ich eine leidenschaftliche Lehre und lebe bis heute ein sehr erfülltes Leben.
Was ich anderen Frauen schildern möchte, ist Folgendes: Kinder haben immer zu mir gefunden. Ich habe Nachbarskinder in mein Herz geschlossen und sie in ihrer Entwicklung flankiert, ich habe etliche Patenkinder. Diese habe ich mit großer Zuneigung begleiten dürfen, heute bin ich Paten-Großmutter. Ich staune immer wieder, wie sehr Kinder in meinem Umfeld spüren, dass ich Kinder respektiere, genieße und dass ich mütterliche Kapazitäten übrighabe. Und so habe ich immer wieder neu, Kinder begleitet. Solche Beziehungen sind anders, als die zu den eigenen Kindern. Die Begleitung ist manchmal temporär. Manche sind lebensbegleitend und die Beziehung zu dem Kind wächst mit. Für mich sind diese Beziehungen einzigartig. Und ich spüre immer wieder, dass ich für manche Kinder von ganz besonderer Bedeutung bin. Und das ist beglückend.
Ich möchte hier aber eigentlich noch etwas Anderes hervorheben. Frauen, die keine eigenen Kinder in die Welt setzen möchten, äußern nicht selten die Befürchtung, als Mutter quasi zu verschwinden. Und dies zu Recht. Denn die Care Arbeit der Mutter wird idealisiert. Sie wird als Leistung ohne Anerkennung eingefordert. Frauen werden dafür weder vergütet noch wertgeschätzt. Die Sorgen von zögerlichen Frauen ist berechtigt. Ich möchte diese ermutigen, die eigene Zurückhaltung ernst zu nehmen.
Viele Frauen fürchten, als Mutter beruflich Kompromisse eingehen zu müssen, die sie ohne Kinder nicht eingehen müssten. Ich habe viele Frauen kennengelernt, die depressiv wurden, als ihre Kinder sie nicht mehr brauchten. Diese Frauen erlebten die Zurücknahme der eigenen beruflichen Entwicklung als großes Problem. Ihr Frust ist nicht aufzuwiegen mit dem Glück, Kinder zu erziehen, diese Verheißung geht nicht auf. Andere Mütter waren frustriert, weil sie nach der Familienphase nur noch Jobs ohne nennenswerte Befugnisse ausüben konnten. Viele waren frustriert, weil sie keine Leitungsfunktionen mehr bekamen. Manche fanden nicht mehr in ihr eigentliches Berufsfeld zurück, weil sie sich zeitweilig ganz auf ihre Mutterrolle konzentriert hatten. Andere Mütter sind in dieser vermeintlich glückselig machenden Phase überfordert, weil sie diesen Verzicht auf die eigene berufliche Entwicklung zu vermeiden versuchen. Mütter, die in Vollzeit arbeiten, sind enorm gestresst. Sie werden in ihrer Familie zum Stressfaktor für alle: für die Kinder, für den Lebenspartner, die Lebenspartnerin und für sich selbst. Natürlich gibt es viele Mütter, die Hauptverdienende sind und dies auch sein müssen. Das Problem sind die mangelhaft ausgestattete Orte öffentlicher Erziehung (Kita, Hort, Schule).
Um dies zu verändern, um den Stress der Mütter zu mindern, bräuchten wir veränderte institutionelle Bedingungen in der Kita, in der Schule und in der Versorgung von Menschen im Alter. Denn diese Care Arbeit wird noch immer völlig unterbezahlt, weil es eine überdurchschnittlich von Frauen geleistete Arbeit ist.
Deshalb möchte ich Frauen ermutigen, sich ein Leben ohne leibliche Kinder zuzugestehen. Und ich möchte deutlich machen, dass ihr Zögern, ein berechtigtes infrage stellen der vermeintlich natürlichen Erfüllung in der Mutterschaft darstellt.
Entscheiden sie sich gegen ein Leben als Mutter, so können sie selbstverständlich ein tolles Leben als Tante führen. Sie können als Freundin von Kindern oder schlicht als super nette Frau für Kinder wichtig sein. Sie können Kinder in der Nachbarschaft ernst nehmen und ggf. unterstützen. Sie können als engagierte Patentante in der eigenen Familie oder als Frau mit mütterlich-fürsorglichem Herzen für sonst wen ein vitales Leben führen!
Die mütterliche Kapazität, die so nutzbar wird, wenn Frauen ein kinderfreies Leben spannend finden und sich der Verheißung der vermeintlichen einzigen Glückseligkeit von Frauen in ihrer Mutterrolle entziehen.
Denn wir brauchen viele Frauen in Leitungsfunktionen und in den politischen Führungsetagen, damit sich Frauen dafür einsetzen, dass sich das Leben von Menschen institutionell verändert und als ein gleichberechtigtes Leben von Männern und Frauen abbildet. Meines Erachtens geht es nicht so sehr um die private Dimension, die wir bislang in dem Terminus «Vereinbarkeit von Familie und Beruf» diskutiert haben. Dies endete nämlich meist in dem Appell, dass sich mehr Väter in den Familien beteiligen müssten, damit es Frauen leichter gemacht wird, auch zu arbeiten. Dies hat aber faktisch dazu geführt, dass die Organisation von Familie, der Mental Load, von den Frauen geleistet wird und Männer die ihnen überlassene additive Funktion übernehmen.
Wir brauchen Frauen, die sich beruflich engagieren wollen – und zwar nur!
Frauen in den Familien gehen meist auch (!) arbeiten, aber meist in Teilzeitjobs, mit weniger mentaler Belastung und Verantwortung, weil diese Kapazitäten in den Familien gebunden sind.
Es liegt eine große Umgestaltungsaufgabe darin, die unbezahlten Care-Leistungen von Frauen infrage zu stellen und sie institutionell zu lösen. Und dies ist mit Männern in entscheidungsbefugten Jobs nicht zu machen. Solange dies nicht gelöst ist, sollte es viele verschiedene Frauenleben geben. Frauen, die gar kein Interesse an Kindern haben. Solche, die sich gern mit Kindern umgeben und sie auch gern begleiten, aber nicht dafür verantwortlich sein möchten. Und Frauen, die gern Mütter sind.
Frauen, die sich für ein kinderfreies Leben entscheiden, müssen kein kinderloses Leben führen. Nicht Mutter werden zu wollen, ohne als Egoistinnen diffamiert zu werden, ist das freie Wahlrecht jeder Frau. Sie müssen damit aber nicht auf innige Erfahrungen mit Kindern verzichten. Aber sie können ihr Leben selbst gestalten und sich auch gegen Kinder entscheiden und ein gänzlich kinderfreies Leben führen.
Wir sollten möglichst viele Frauen ermutigen, sich hauptberuflich zu engagieren für die Lösung der vielen ungelösten Fragen unserer Welt. Und zu diesen gehören bekanntlich nicht nur die Fragen der institutionellen Entlastung von Familien durch gut ausgestattete Kitas und Schulen. Auch drängt es nach einer Lösung der dramatisch unterfinanzierten Fürsorge für ältere Menschen. Es fehlt an planetarischen Lösungen, damit diese Welt nicht an den patriarchalen Denktraditionen erstickt. Es fehlt an Strategien, die Autokraten mit toxischen Macht- und Männlichkeitsinszenierungen zu stoppen. Ungeregelt ist nicht nur der Pflegenotstand. Faktisch erleben wir derzeit weltweit dramatisch ungelöste Probleme, weil Männer die wirtschaftlichen und politischen Entscheidungspositionen besetzen.
All dies zu verändern wird nur gelingen, wenn viele kinderlose Frauen sich in ihren Jobs engagieren und ihre Bildungswege, ihre Intelligenz und ihre Kreativität dort einfließen lassen, wo sie gut und wirksam sind.
Corinna Voigt-Kehlenbeck
Lebt in Niedersachsen.
Sie ist heute Dozentin an der Fachhochschule Braunschweig /Wolfenbüttel.