Ich bin keine zukünftige Mutter mehr

Die Geschichte von Bettina

Ich sitze im Tram von Weil am Rhein nach Basel. Auf meinem Schoss ein grosses Paket. Darin kryokonserviertes Sperma des Spenders «Sparks». Ich, die am Flughafen bei jeder Kontrolle nervös wird, obwohl ich sicher nichts Verbotenes im Gepäck habe. Ich, die immer wartet, bis die Ampel auf Grün schaltet – auch mitten in der Nacht. Ja, ich schmuggle das, was ich benötige für mein zukünftiges Kind über die Landesgrenze. Getarnt als Geburtstagsgeschenk. Warum tue ich mir das alles an?

Als Frauenpaar mit Kinderwunsch gab es für uns vor 4 Jahren in der Schweiz noch keine Möglichkeit, den Traum der eigenen Familie mit medizinischer Hilfe zu verwirklichen. Fünfmal flog ich deshalb zum richtigen Zeitpunkt im Zyklus nach Kopenhagen in eine Fertilitätsklinik. Zuvor mehrere Ultraschall-Untersuchungen bei meiner Gynäkologin, die eingeweiht war. Hormone, um die Reifung der Eizellen zu stimulieren. Auslösespritzen, um den Eisprung zu timen. Morgens vom Flughafen Kopenhagen aus beim Arbeitgeber anrufen und mich krankmelden. Es war anstrengend. Ich war bald erschöpft. 

Die Möglichkeit, dass uns ein Arzt hier in der Schweiz helfen könnte, war eine Erleichterung. Er tat damit etwas Illegales. Und ich mit meiner Tramfahrt über die Landesgrenze mit Spendersperma auf dem Schoss auch. Die Lieferung der Samenbank liess ich an eine Paketstation in Lörrach liefern. Da das Paket viel zu gross war für meinen Rucksack, musste ich die Kartonkiste mit etwas Geschenkpapier getarnt herumtragen. Da sass ich nun im Tram und dachte: «Was tue ich hier? Das bin ich doch nicht? Warum nehme ich das alles auf mich?»

Kinder? Klare Sache.

Ich wollte immer Kinder. Ich habe drei Geschwister – sie sind die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Meine Kindheit mit ihnen an meiner Seite war fantastisch. Es war immer jemand da zum Spielen, Raufen, Geschichten erzählen und Unsinn aushecken. Meine Eltern haben sich eine grosse Familie gewünscht, das war ihnen wichtig. 

Kinderfreie Menschen gab es in meiner Kindheit einige, wenn ich so darüber nachdenke. Es haftete ihnen stets etwas an: Chris und Susanne verwirklichten sich im Beruf und reisten viel nach Amerika – karrieresüchtig! Esther hatte nie einen Partner – suspekt! Einzig bei meinem Götti war es nie Thema. Vielleicht, weil er ein Mann ist. 

Mama, Papa, Kind. Das spielte ich sehr gerne. Auch, wenn meine jüngeren Brüder das nicht so spannend fanden. 

Fast 35 Jahre lang lebte ich als zukünftige Mutter.

Stress, Enttäuschung, Hoffnung. Immer wieder.

Ich werde eine Mama sein, ganz klar. Das dachte ich auch, als ich meine Frau kennenlernte. Wir waren frisch zusammen, lasen uns am Sonntagmorgen im Bett gegenseitig Ronja Räubertochter vor. Stellten uns dabei vor, dass unser zukünftiges Kind sich eines Tages zwischen uns kuscheln und der Geschichte lauschen würde. Eine schöne Vorstellung. Ich wusste, dass ich das will. 

Meine Mutter fing an, mir Artikel über Frauenpaare und ihrem Weg zum Wunschkind zu senden. Ich informierte mich und wir redeten viel darüber – meine Frau und ich. Wir trafen andere Frauenpaare, die ein Kind hatten. Diskutierten darüber, ob uns ein Freund helfen könnte oder ob wir den Weg über eine Samenspende gehen wollen. 

Es dauerte Monate und irgendwann war der Plan reif und wir im «Urlaub» in Kopenhagen. Mit meiner Frau zu einer Familie zu werden, die ich mir so sehr wünschte, war zum Greifen nahe. Aber es klappte nicht. Stress und Enttäuschung und Hoffnung. Und wieder Stress und Enttäuschung und Hoffnung. Immer wieder. 

Daneben der Versuch, beruflich voranzukommen, damit meine Familie auch finanziell abgesichert wäre. Wenn ich zurückblicke, dann weiss ich: Ich war ausgebrannt und depressiv. Auf dem Weg zur Arbeit schloss ich mich ins Zug-WC, heulte unkontrolliert, um danach einen ganzen Tag im Job zu funktionieren.

Ich will kein Kind mehr.

Eines Tages sagte meine Frau zu mir: «Ich will das nicht mehr. Ich will kein Kind mehr.» Zuerst wischte ich es weg: «Ja, machen wir eine Pause. Das war zu stressig in letzter Zeit.» Aber sie wollte nicht mehr. Nie mehr. 

Trenne ich mich nun von ihr? Von der Frau, die ich liebe? 

Liebe ich mein zukünftiges Kind mehr als meine Frau?

Ich kannte die Antwort darauf lange nicht. Die Auseinandersetzung damit nahm viele Umwege. Es sass tief, dass ich mit dem einzigen Menschen, mit dem ich mir eine Familie vorstellen kann, mit der einzigen Frau, die ich mir als Mutter meiner Kinder vorstellen kann, keine Kinder haben werde. 

Ich wusste, wenn ich mit ihr zusammenbleibe, dann werde ich nicht Mutter.

Und sie hatte das für uns entschieden. Es war ein Verrat. Ich war wütend. Meine Welt ging unter. Alles, was bisher Sinn machte, machte keinen mehr. Der Boden meiner Identität wankte und ich war dem Schwanken machtlos, hilflos ausgeliefert. Ich war handlungsunfähig. Auf der einen Seite stand unumstösslich mein Selbstverständnis als Mensch, der Kinder haben wird. Und auf der anderen Seite die Realität, dass meine Frau das nicht mehr will.

Ohne Kind bin ich nichts

Es war die grösste Krise meines Erwachsenenlebens. Ich war zerrissen und am Boden. Alles um mich wurde enger und enger, dunkler und dunkler. 

Ohne Kind bin ich nichts. Ohne Kind macht mein Leben keinen Sinn. Ohne Kind bin ich wertlos.

Alle werden meinen Makel sehen. Ich kann nicht kinderlos sein. Ich wollte nicht mehr aufstehen, nie mehr. Es war Frühling, aber ich war am Ende.

Ein Freund von mir änderte das mit einer Frage. Auch er wollte Kinder, auch er konnte in seiner Beziehung keine bekommen. «Lass uns gemeinsam darüber nachdenken, ob wir als Co-Eltern ein Kind haben könnten.» Plötzlich hatte ich wieder Handlungsspielraum, ich konnte mitentscheiden. 

Wir haben viel geredet, unsere Karten auf den Tisch gelegt, diskutiert, geträumt. Und kamen dann beide auf dem Boden der Realität an. Wir können kein Kind zusammen haben. Er wohnt mit seiner Frau in einer anderen Stadt. Ich will mich nicht von meiner Frau trennen, sie konnte sich aber nicht vorstellen, wie eine Beziehung mit Kind aussähe. Wir merkten, dass wir diese komplizierte Konstellation keinem Kind zumuten wollen. 

Wir wollten für unser Kind, das wir nicht haben werden, das Beste entscheiden.

Ich bin keine zukünftige Mutter mehr

Irgendwann dämmerte mir: Ich bin keine zukünftige Mutter mehr. Während das die ersten 35 Jahre meines Lebens meine Identität war, gibt es diesen Teil von mir nun nicht mehr. Ich bin Tante und Patentante geworden. Meine kleinen Neffen wohnen im selben Haus wie ich und kommen manchmal hoch zur Bandprobe oder essen eine Buchstabensuppe mit meiner Frau und mir. Wir wohnen in einem Mehrgenerationenhaus und ich habe Familie rund um mich. 

Aber es gibt trotzdem etwas, das sich wie ein Loch anfühlt. Nichts kann je das ersetzen, was meine Kinder sind, die nie auf die Welt kamen. Sie sind nur eine Idee von mir, aber sie waren und sind immer ein Teil meiner Identität. Dieses Loch will ich nicht füllen. Meine Identität ist es, dass ich keine zukünftige Mutter bin. 

Ich bin eine Frau ohne Kinder. Aber Identität ist mehr als das, was ich mal dachte, zu werden.

Wofür steht ein Kinderwunsch?

In einem verzweifelten Moment vor einigen Jahren nahm ich an einem Seminar teil: Kinderwunsch loslassen. Acht wütende, verzweifelte Frauen um die 40 im Sitzkreis, die ihrer Wut endlich freien Lauf lassen konnten. Wut über die eigenen Eltern, die enttäuscht reagieren, weil sie keine Grosseltern werden. Wut über die engen Freundinnen, für die es nur noch Windeln, Brei und schlaflose Nächte gibt. Wut über Eltern mit Kinderwagen zur Stosszeit im Tram. Wir konnten gar nicht mehr aufhören. 

Die Kursleiterinnen wollten uns darin unterstützen, neue Ideen und Pläne in unserem Leben zuzulassen. 

Herauszufinden, wofür der Kinderwunsch eigentlich steht und wie man diesem Bedürfnis sonst noch nachgehen könnte.

Aber wir waren nur wütend. Diesen wütenden, kinderlosen Frauen fühle ich mich noch heute sehr verbunden.

Herauszufinden, was denn mein Bedürfnis hinter dem Kinderwunsch ist, dauerte länger. Vielleicht dauert es bis heute an. Aber ich habe etwas von mir wiederentdeckt, das schon immer zu mir gehört hat, aber lange keinen Platz hatte. 

Seit anderthalb Jahren studiere ich wieder. Theologie mit Berufsziel Pfarrerin. Das Glücksgefühl, das ich an einem Samstagabend am Schreibtisch beim Hebräisch lernen empfinde oder in einer Vorlesung zum Alten Testament, das können vielleicht nicht viele nachvollziehen. Aber mich hat es mir selbst wieder nahegebracht. Ich darf sein. Mit meinen Büchern, mit meinen Interessen, mit meinen Talenten.

Ein grosses Werden

Mein Leben ist wieder zu einem grossen Werden geworden. Ich werde Pfarrerin. Es dauert noch ein Weilchen bis dahin. Zuerst darf ich mich noch in der Bibliothek verkriechen und mich mit Texten beschäftigen, die seit mehr als 2000 Jahren zu denken geben. Darf mich aufmachen, um herauszufinden, was Spiritualität ist und wie sie gemeinsam mit anderen gefeiert und gelebt werden kann. 

Ungern gebe ich zu, dass die beiden Kursleiterinnen aus dem Loslass-Seminar irgendwie doch recht hatten: Der Kinderwunsch steht für etwas. Man kann nicht ersetzen Kinder zu haben – das ist ein einmaliges grosses Wunder. Und ja, ich bin oft traurig, dass ich das Wunder nicht in meine Arme schliessen kann. Das geht ganz tief. Aber ebenso tief geht der Gedanke, dass ich für mich und mein Bedürfnis da sein kann. Ich darf sein. 

Ich darf sogar glücklich sein.

Die Welt aus einer anderen Perspektive

Und mit wem werde ich Weihnachten feiern, wenn ich alt bin? Das habe ich mich in meiner Entscheidungsphase manchmal gefragt. Ja, wie überlebt man den grössten Familienfeiertag in unserer Gesellschaft, wenn man keine Familie hat? 

Ich habe für mich eine Lösung gefunden. Ich werde arbeiten. In der Kirche, dem Ort, an dem ich an Weihnachten eigentlich am liebsten bin. Aber ich möchte auch mit allen anderen feiern, die keine Kinder haben. Kirche ist ein wichtiger Ort für mich, an dem wirklich und aufrichtig Raum sein soll für alle Lebenskonzepte. Aber auch abseits der Kirche suche ich nach Räumen, in denen Platz ist für Menschen ohne Kinder. Ich möchte einen Ort schaffen.

Einen Ort schaffen, der sich nicht durch den Mangel definiert.

Aber in dem doch die Fragen und Emotionen Raum haben, die einen als kinderlose und kinderfreie Frauen und Menschen beschäftigen. Einen Ort haben, an dem Dinge ihren Platz haben, die nur versteht, wer keine zukünftige Mutter oder kein zukünftiger Elternteil ist. Dinge, die nur wir verstehen. Wir, die wir keine Kinder haben und die Welt deswegen aus dieser ganz besonderen Perspektive sehen.


Bettina

*1984, arbeitet aktuell mit Worten und Excel-Sheets, mit kreativen Ideen und Förderanträgen, zwischen Kultur und Verwaltung, zwischen Live-Events und Büroalltag. Seit 2014 ist sie verpartnert und lebt mit ihrer Frau in einem Mehrgenerationenhaus in Bern.  

Gastautor*in

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