Kinder sind auch nur Menschen
Die Geschichte von Andrea Keller
«Tanti, warum hast du keine Kinder?», fragt sie mich – meine kleine Nichte, sieben Jahre jung, blonde Locken, grosse Augen und eine warme Kinderumarmung. Sie schaut zu mir hoch. Ich überlege nicht lange, sage: «Na, weil es euch schon gibt, dich und deine Schwester. Und ihr perfekt seid. Ich hätte das nicht besser hingekriegt, ehrlich.» Sie neigt den Kopf zur Seite, mit prüfendem Blick. Dann hakt sie nach: «Oder weil Kinder anstrengend sind?» Ich muss lachen. «Anstrengend? Seid ihr das?» Sie grinst und nickt, verschmitzt.
Ja, Kinder können anstrengend sein, das ist ein offenes Geheimnis. Manche verraten es einem nicht süss-grinsend, sondern mit arschigem Benehmen, mit tosendem Gebrüll. Aber das ist nicht der Grund, warum ich keine habe. Denn Kinder können nicht nur anstrengend, sondern auch grossartig sein – was ich ebenfalls erlebe, sehe, höre. Kein Zweifel daran.
Schon gar nicht so nah. Schon gar nicht die Verantwortung dafür tragen, deren Aufwachsen finanzieren. Einige haben gute und schlechte Phasen. Einige haben mehr oder weniger Herz – und mehr oder weniger Grips. Und mehr oder weniger Anstand. Manche riechen gut, andere komisch. Manche können verunsichernd sein. Manche sind selbst sehr verunsichert. Auch als Erwachsene. Auch bei der Kinderfrage. Die kann eben wirklich-wirklich verunsichernd sein.
Wie wären die wohl geworden?
Für mich fühlt es sich stimmig an, den Weg ohne Nachwuchs zu gehen. Hätte es anders kommen können? Schon. Hätte es anders kommen sollen? Nein. Hätte ich gewollt, dass es anders kommt? Nicht wirklich. Denn diese Idee, Mutter zu werden, ist nicht meine. Und sie ist keine, die ich übernehmen mag.
Also: Wie wären sie so? Was hätten sie von mir? Wo würden sie sich klar unterscheiden? Wie würden sie aussehen? Wovon würden sie träumen, worüber lachen, welche Ideen hätten sie, was würden sie tun?
Interessanterweise habe ich bei derlei Gedankenspielen aber nicht etwa kleine Kinder, sondern Erwachsene im Kopf. Ich stelle mir meine «Kinder», die als Potenzial vorhanden gewesen wären, also als Zwanzigjährige vor, als Dreissigjährige, als Vierzigjährige. Ich frage mich, ob sie die Welt hätten bereichern können, Gutes tun – klarer und fassbarer, kraftvoller, als es mir möglich ist.
Und, ja, um diese Geschöpfe habe ich auch schon getrauert. Ganz bewusst. Insbesondere in jenem Moment, in dem mir klar geworden ist, dass aus meinem «Mich-lieber-nicht-aktiv-mit-dem-Thema-befassen-weil’s-mich-eigentlich-auch-weniger-interessiert-als-anderes» ein «Ich-will-es-lassen» geworden ist, hat mich das durchaus bewegt.
Ich erinnere mich, nach einem Gespräch mit meinem Partner mit einem Glas Rotwein am späteren Abend auf dem Balkon gesessen zu sein und darüber nachgedacht zu haben.
Manchmal stelle ich mir vor, dass sie alle doch existieren, in einer Art Paralleluniversum.
Und, ja: Dass mein Bruder mit einer Partnerin, die ich schätze, zwei grossartige Töchter hat, die ich sehr gern habe, kommt mir hier auf Erden sehr gelegen. Erstens, weil meine Eltern so doch Grosseltern sein dürfen, was sie wirklich sehr gern sind, beide. Und zweitens, weil ich auch etwas von mir in ihnen zu erkennen glaube.
Ob ich da projiziere? Natürlich! Schamlos. Am liebsten dann, wenn sie gerade was tun, das ich toll finde. – Erzählt sich die Verwandtschaft tatsächlich, in ihrer Erscheinung, in ihrem Wesen? Nun, die beiden sind sehr verschieden. Aber ich denke: ja, doch. Schon. Hin und wieder, hier und dort. Auf eine je eigene Art und Weise. Diese Gedanken fühlen sich gut und zugleich etwas übergriffig an. Denn es ist nun wirklich nicht mein Verdienst, dass es die beiden gibt und dass sie sind, wie sie sind.
«Warum hast du keine Kinder, Tanti?», hat sie gefragt. Das war übrigens in einem Moment, an dem sich exemplarisch mit Pauken und Trompeten miterzählen lässt, was mein Leben denn stattdessen bereichert. Ich habe mich nämlich gerade verabschiedet, war im Begriff, für eineinhalb Monate nach Gabun, Afrika, zu gehen und da als «Artist in Residence» den Themen Poesie und Natur nachzuspüren, auch im wild durchwachsenen Urwald. Ob ich das hätte machen können, mit kleinen Kindern zu Hause? Nun, so sicher nicht. Vielleicht anders. Vermutlich hätt ich’s dann aber gar nicht gewollt: allein in ein geheimnisvolles Land gehen, das die wenigsten von uns auf ihrer «Landkarte» haben. Und da in den Dschungel.
Ich darf vergessen werden
In Gabun wurde mir die Frage übrigens auch gestellt, sogar sehr oft: «Tu n’as pas d’enfants? Mais pourquoi? Pourquoi?» – Gefragt haben in erster Linie Männer. Und wenn ich ihnen geantwortet habe, dass ich keine will, dass wir bereits zu zahlreich sind, auf dieser Erde, dass ich mir ernsthaft Sorgen mache über den weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte, dass ich nicht zuletzt ganz glücklich sei ohne und dafür meine Projekte habe, die mir am Herzen liegen, bekam ich verständnislose, ja besorgte Blicke und eins aufs Ohr: «Mais Dieu veut que tu aies des enfants!» – Aber Gott möchte, dass du Kinder hast! Oder auch: «Qui se souviendra de toi quand tu seras mort ?» - Wer soll sich an dich erinnern, wenn du tot bist?
Letzteres quittierte ich mit einem Schulterzucken und der ehrlich gemeinten Feststellung, dass ich vergessen werden darf. Dass das ganz okay sei, wenn sich irgendwann niemand mehr an mich erinnere. Dass es aber im ersten Moment doch auch noch Freund:innen und Verwandte gebe, Kolleg:innen, dass man nicht nur in Kindern, sondern auch in Begegnungen, in Werken und in Ideen nachklingen kann. Und irgendwann wird’s dann sowieso still. Bei uns allen. Um uns alle.
Das Argument mit dem Gotteswunsch, dem ich nicht nachkomme, empfinde ich als gewaltvoll. Aber ich will hier nicht jenen einen Vorwurf machen, die mich auf Reisen mit dieser Überzeugung konfrontiert haben, denn ich habe ihnen geglaubt, dass sie das glauben. Gewaltvoll finde ich die Vorstellung beziehungsweise die Geschichte an sich. Gewaltvoll finde ich das Narrativ von einem «lieben» Gott, der von einer jeden Frau verlangt, auch von jedem Mann, dass sie/er Kinder bekommt, auch wenn das nicht der eigenen Überzeugung entspricht; beispielsweise, weil die Welt gerade wackelt.
Es ist wahr: Ich bin in Sorge, was unsere Zukunft betrifft. Und ich erinnere mich, schon als junge Erwachsene im Flugzeug gesessen zu sein, aus dem Fenster und runter auf schier endlose Städte und überbaute Hügel geschaut zu haben und gedacht: «Jessäs, wir Menschen nehmen uns so viel Raum, so unanständig viel Raum. Als würde die ganze Erde nur uns gehören. Die Zivilisation ist wie ein Ausschlag, der sich immer weiter ausbreitet.» Es sieht nicht gut aus, wirklich. Im doppelten Sinne.
Treffen sich zwei Planeten im Weltall.
Fragt der eine: „Hey, wie geht´s?“
Antwortet der andere: „Nicht gut. Ich glaub, ich hab Menschen…“
„Oh, das ist schlimm“, sagt der erste. „Aber das geht vorüber.“
Ein alter Witz, ich weiss.
Noch mehr Menschen?
Könnt ihr machen – ohne mich
Ich habe auch schon als Kind jeweils eine Krise gekriegt, wenn wieder irgendwo ein neues Haus gebaut wurde, dafür Felder und Wiesen und Bäume weichen mussten. Einem Teil von mir war also damals schon klar, dass die Vermehrung einen Preis hat, den mitunter die Natur bezahlt. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, sind die Überbevölkerung und der Zustand unserer Welt, die Masslosigkeit der Menschen auch kein gültiger Grund dafür, warum ich keine Kinder habe. Denn Hand aufs Herz – oder Hand auf diesen Bauch, in dem das vielleicht grösste aller Wunder nicht stattgefunden hat:
Dann würde ich mich auch nicht davon aufhalten lassen, dass sich die Bevölkerung seit 1974 auf acht Milliarden Menschen verdoppelt hat, bereits einige planetare Grenzen überschritten sind und das Meer voller Plastik ist. Und versteht mich bitte nicht falsch: Dass niemand mehr Kinder macht, wäre auch keine Lösung. Nein. Denn das hätte ebenfalls verheerende Folgen – zumal für uns Menschen.
Aber ich bin froh, dass mittlerweile beide Seiten (die mit Kindern und die ohne Kinder) unter dem dringenden Verdacht stehen, egoistisch zu sein, also nur an sich zu denken und keinen Beitrag an eine lebenswerte Zukunft zu leisten. Denn früher standen nur die ohne Nachwuchs auf der Anklagebank. Und wenn nun beide Seiten unter Verdacht stehen, wird Folgendes denkbar: beides ist richtig. Und beides ist falsch. Was bedeutet: Wir können den Zeigefinger senken. Wir können versuchen, von Herzen das zu machen, was sich für uns selbst (und nicht für andere) richtig anfühlt.
Das empfinde ich als verantwortungslos – den Kindern und der Welt gegenüber. Und Menschen zu Kindern drängen zu wollen, ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen, wenn sie selbst keine haben, Ihnen das Gefühl zu geben, allein nicht «komplett» zu sein und so nichts zur Gesellschaft beizutragen: Das ist für mich, eben, eine Form von Gewalt.
Ein anderer Raum, ein anderer Traum, ein pralles Leben
«Tante, warum hast du keine Kinder?» – Diese Frage habe übrigens auch ich schon gestellt, als Kind – und zwar der einzigen meiner sechs Tanten, die keine Kinder hat. Ich erinnere mich: Ich hab’s tatsächlich nicht verstanden, denn sie war oft zu Besuch, erzählte mir und meinem Bruder immer ganz wunderbare Geschichten. Mit ihr konnten wir die Welt vor der Haustür entdecken, über die Natur staunen, Steine bewundern, Materialien befühlen, Tücher färben. Sie hatte einen besonderen Draht zu Tieren, zu Pflanzen, sammelte Blätter, Blüten, Samen, Gräser, machte kleine Bilder mit Miniaturlandschaften daraus. Sie hatte Ausstellungen – und keinen Kinderwunsch. Aber einen Partner. Auch den mochten wir sehr. Er war Grafiker und ebenfalls ein begnadeter Geschichtenerzähler. Er kannte «Ds Totemügerli» vom Franz Hohler in- und auswendig, hat’s uns – auf unsere Bitte hin – auch immer mal wieder vorgetragen.
Gäuit we mir da grad eso schön binanger sitze, hani däicht, i chönntnech vilicht no nes Bärndütsches Gschichtli verzelle. Es isch zwar es bsungers uganteligs Gschichtli wo aber no gar nid eso lang im Mittlere Schattegibeleggtäli passiert isch. (…)
…habe ich also gefragt. Ich werde ihre Gründe hier nicht weiter ausführen, weil sie das tun müsste, nicht ich. Aber sie haben mit einem Wunsch nach Freiheit zu tun, den ich sehr gut nachvollziehen kann. Und so hatte ich von klein an jemanden vor Augen, dessen Existenz mir ins «Möglichkeiten-Heft» notiert hat: Ja, man kann eine schöne, tolle, humorvolle, fantasievolle, kreative, feinfühlige Frau sein, die wunderbar mit Kindern umgeht, von Kindern auch geliebt wird – und trotzdem keine Familie wollen. Und trotzdem keine Familie haben. Und trotzdem nicht Mutter sein.
Was dieses Beispiel bei mir bewirkt hat? Ich kann nur mutmassen. Ich vermute, dass ihr Beispiel für mich keinen Raum geschlossen hat, aber einen zusätzlichen offen gelassen … Was gewesen wäre, wenn die einzige kinderlose Tante in der Familie nicht wie sie gewesen wäre, sondern eine in meinen Augen fade, unattraktive, vielleicht sogar unangenehme Person, die noch dazu sehr darunter gelitten hätte, keine Kinder zu haben?
Ich weiss es nicht. Gut möglich, dass ich dann Schiss gehabt hätte, auch mal so zu werden – aber zu werden, wie sie damals war, diese Tante, das schien mir … nun, erlebenswert. Und ich hoffe, es ist auch für die Töchter meines Bruders und dessen Partnerin wertvoll, mit mir eine weibliche Bezugsperson im Umfeld zu haben, die einen spannenden, durchaus auch schöpfungskräftigen Weg ohne Nachwuchs geht. Nicht, weil sie muss, sondern weil sie kann. Weil sie darf. Weil sie will.
Und das soll nicht bedeuten, dass sie ihren Weg auch ohne Kinder gehen sollen. Es geht eben gerade nicht um das Sollen – es geht um das Wollen. Und vielleicht wollen sie selbst irgendwann unbedingt Mütter werden. Auch das wäre schön. Ich freue mich einfach, wenn sie wissen: Es ist möglich. Und weder das eine noch das andere sagt per se etwas über den Stand der Erfüllung, die Qualität des Daseins, den Wert eines Menschen aus.
Vermisse ich etwas?
– Nein.
Verpasse ich etwas?
– Oh, ja. Unendlich viel.
Würde ich auch im umgekehrten Fall etwas verpassen, also: wenn ich keine Kinder hätte?
– Oh, ja. Unendlich viel.
Verpassen wir also sowieso etwas, sogar unendlich viel?
– Sieht ganz so aus. Désolée.
Kann ich damit leben?
– Ganz wunderbar.
Und du? Wie geht’s dir damit?
Hast du Kinder? Hast du keine?
Was sagen andere dazu?
Ich für meinen Teil bin dankbar, in einem persönlichen Umfeld zu leben, das mich nie unter Druck gesetzt hat. Im Gegenteil: Ich habe vielmehr das Gefühl, dass jene, die mich näher kennen, es passend oder zumal nicht befremdlich finden, dass ich ohne eigene Familie in der Welt stehe, meinen Weg projekt- und ideenreich, zugleich kinderfrei gehe. Mein Partner kennt zudem einige Eigenschaften von mir, die nicht unbedingt fürs Mutter-werden sprechen. Ein Beispiel: Ich falle in Zeitlöcher. Immer wieder. Wenn ich an was dran bin, kann’s gut sein, dass ich alles um mich herum vergesse, dass ich also irgendwann im Dunkeln am Computer sitze, weil ich nicht gemerkt habe, wie der Tag der Nacht gewichen ist.
Mein Leben ist zudem irrsinnig prall und voller Themen und Gedanken, die mich bewegen, die ich erkunden möchte, die mich auch fordern. Es gibt so viel zu entdecken – da draussen, auch in mir drin. Und ich bin dankbar für die wunderbare Begleitung, die ich habe: grossartige Menschen mit Kindern, grossartige Menschen ohne Kinder, grossartige Menschen, die selbst noch Kinder sind oder junge Erwachsene: mein «Gottämeitli», beispielsweise, und, eben, meine beiden Nichten. Auch wenn ich die alle gern mehr sehen würde. Aber eben: Irgendwie haben wir viel um die Ohren. Alle. Die mit und die ohne Kinder. Und auch die, die noch Kinder sind.
Für meine Nichten bin ich übrigens tatsächlich das «Tanti» – mit «i». Genau. Klingt im ersten Moment nach alter, faltiger Tante, etwas rundlich und warm, die nach Keksen riecht. Aber im Italienischen steht das Wort für «viel» – und in meinem Fall? Nun, wie wär’s damit: die Frau, die (gerade auch) ohne Kinder ganz schön viel ist.
Andrea Keller
*1981, im Zürcher Unterland aufgewachsen, ist Autorin, Schreibpädagogin, Kuratorin/Kulturvermittlerin und lanciert auch immer mal wieder eigene Kunst-/Kulturprojekte, in Komplizenschaft mit anderen. So hat sie schon ein Fundbüro für Immaterielles betrieben und war Co-Initiatorin von «Hallo, Tod!», einem Kulturprojekt, das zur Begegnung mit dem Unausweichlichen einlädt. Derzeit beschäftigt sie sich intensiv mit der Verbindung von Schreiben und Natur sowie einem Häuschen, das ihr sehr zerfällt. kreativ-komplizin.com / studio-narrativ.com