Wer Kinder haben will, sollte dafür gute Gründe haben

Die Geschichte von Patrick Jordi

Die Tatsache, dass ich keine Kinder habe, beschäftigt mich im Alltag bzw. im Austausch mit anderen Menschen so gut wie gar nicht, denn ich werde auf das Thema schlichtweg nicht angesprochen. Es scheint, als würde ich gar keinen oder höchstens einen impliziten Rechtfertigungsdruck verspüren, was die Kinderfrage angeht. 

Ich bin ein 35-jähriger Mann und lebe in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft. Also gleich zwei Gründe dafür, weshalb Freunde und Bekannte kaum je auf die Idee kommen, mich um eine Rechtfertigung anzuhauen. Denn erstens: Homosexuelle Paare kriegen ja ohnehin keine Kinder. Und zweitens: 

Es ist gesellschaftlich vollkommen akzeptiert, dass Männer kinderfrei bleiben, egal, ob als Single oder in einer Partnerschaft lebend.

Letzteres, behaupte ich, ist tatsächlich so: Männer als unabhängige Karrieretypen, Männer als einsame Wölfe, Männer als hedonistische Bonvivants – Klischees, die sich hartnäckig halten. Die Behauptung hingegen, gleichgeschlechtlich liebende Menschen hätten sowieso keine Kinder, ist längst überholt. Wie wir wissen, stehen heute diesbezüglich unter anderen auch homosexuellen Menschen einige wenige Optionen offen, beispielsweise die Möglichkeit der Adoption. Über die spärlichen und komplizierten Optionen, die es in dieser Hinsicht gibt, bin ich, um ehrlich zu sein, jedoch nicht allzu gut informiert, denn selbst hege ich nach wie vor keinen konkreten Kinderwunsch.

Das Thema beschäftigt mich zusehends 

Und trotzdem, obschon ich mir bis jetzt keine eigenen Kinder wünsche und ich für mein kinderfreies Leben nicht im Entferntesten scheel angeschaut werde, beschäftigt mich das Thema zusehends. Hauptsächlich aus zwei Gründen. Einerseits hegt mein Partner – anders als ich – einen relativ grossen Kinderwunsch. Andererseits konnte ich in jüngster Vergangenheit zu Kindern einen gewissen Draht aufbauen, der zuvor leider fast komplett inexistent war.

Dass ich neuerdings einen Bezug zu Kindern habe, hat unter anderem damit zu tun, dass ich derzeit ab und zu unterstützend in einem Kindergarten mitarbeite. Nur als einfache Aushilfsperson zwar, aber es genügt, um inzwischen besser nachvollziehen zu können, weshalb sich Erwachsene für Kinder begeistern können. Dafür gibt es nämlich, wie ich finde, einige sehr gute Gründe, die ich ganz am Schluss aufzählen werde.

Mit meinem kinderfreien Leben, so viel kann ich festhalten, war ich bislang sehr zufrieden. Doch die neuen Erfahrungen im Austausch mit Kindern sowie insbesondere die Tatsache, dass mein Partner eben einen konkreten Kinderwunsch hat, bringen mich nun langsam, aber sicher an einen Punkt, an dem ich mich mit dem Thema vielleicht noch einmal ein bisschen eingehender und ernsthafter beschäftigen muss. Und wenn dies letztlich «nur» dazu dient, meinen bisherigen Standpunkt zu untermauern – auch gut.

Zumutungen einer spätmodernen Gesellschaft

Dieser Standpunkt umfasste nämlich nebst der Tatsache, dass ich bis anhin keinen konkreten Kinderwunsch verspürt habe, auch noch folgenden Gedankengang:

Wieso sollte ich Kinder haben in einer Welt, in der sogar ich selbst mich manchmal nur mühsam zurechtfinde, die ungeheuer komplex ist und die mich ab und an ziemlich desillusioniert zurücklässt?

Über die Gründe, weshalb ich so empfinde, kann ich hier nicht gross Auskunft geben, denn das würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Mehr dazu vielleicht später auf meinem eigenen Blog. Was ich aber anmerken kann: Dass das Leben in unserer spätmodernen Gesellschaft, mit all ihren Konventionen, dem Konkurrenzdenken, den ewigen Vergleichen, unserer notorischen Zeitnot sowie mit unserem System einer wachstumsorientierten Marktwirtschaft, bisweilen eine ziemliche Zumutung für Geist und Körper sein kann. Und es gibt Menschen – zu denen würde ich mich ebenfalls zählen – die sich innerhalb der Rahmenbedingungen, in denen wir leben, zuerst einmal um sich selbst kümmern müssen. Das hat nichts mit Egoismus zu tun, sondern vielmehr mit Selbstfürsorge. Dazu passt eine Textstelle, die mir kürzlich in einem hübsch zu lesenden Ratgeberbuch begegnet ist:

Wenn man Kinder hat, geht es zu einem grossen Teil darum, zu geben. Bevor Kinder ins Leben treten, muss man sich also bereits um sich selbst gekümmert haben.

Dieses Zitat spricht mir aus der Seele, denn bislang hätte ich es mir nicht zugetraut, Kinder über längere Zeit in meine Nähe zu lassen, geschweige denn, selbst Kinder grosszuziehen. Angesichts der abenteuerlichen Anforderungen, die das Leben in einer spätmodernen Gesellschaft an einen stellt, war ich zuletzt einfach zu sehr mit mir selbst beschäftigt, als dass ich mich auch noch um ein kleines, hilfloses, liebebedürftiges, Geborgenheit benötigendes, lernwilliges, neugieriges, Hunger und Durst empfindendes, Aufmerksamkeit heischendes Geschöpf hätte kümmern können.

Vielleicht wäre ich ja ein guter Vater?

Von Freunden hingegen, die selbst Kinder haben, weiss ich, dass es «dann schon irgendwie geht» und es «sich quasi von selbst einrenkt», wenn man plötzlich mit Nachwuchs konfrontiert ist. Mag sein. Vielleicht wäre meine oben geäusserte, auf Zweifeln basierende Selbstbezogenheit wie weggeblasen, träte plötzlich ein Kind in mein Leben. Ja, womöglich würde ich diese Aufgabe bzw. das Kind sogar mit einer gewissen Leichtigkeit schaukeln. Aber wer weiss das schon im Voraus? Persönlich möchte ich mich in diesem Zusammenhang jedenfalls nicht auf vage Annahmen stützen und vom Zufall leiten lassen müssen. Dafür sind mir die Konsequenzen dann doch viel zu weitreichend.

Und gerade, weil die Konsequenzen so weitreichend und lebensverändernd sind, bin ich der Meinung, dass, wer willentlich Kinder haben möchte, wirklich gute Gründe dafür haben sollte.

Ein gewisses Mass an Selbstreflexion, wenngleich diese von der Gesellschaft beim Thema Kinderkriegen offensichtlich nicht vorausgesetzt wird, würde in allen Fällen, wo Kinderwunsch und/oder Fortpflanzung opportun werden, nicht gerade schaden.

Nicht besonders viel Gehirnschmalz – oder möglicherweise gar keiner – steckt meines Erachtens in die Sache, wer aus folgenden «Gründen» Kinder haben möchte (Aufzählung nicht abschliessend):

  • einfach, weil es die Natur so vorgesehen hat (aufgrund eines Urinstinktes)

  • weil die Gesellschaft es so vorgibt und eine Mehrheit der Menschen Kinder haben möchte (aus sozialer Angepasstheit, aufgrund eines gesellschaftlichen Zwangs)

  • aus rein dogmatisch-religiösen Gründen (Glorifizierung der «klassischen» Familienstruktur, Gott hat es für mich so vorgesehen)

  • weil ich etwas hinterlassen möchte (das eigene Genmaterial streuen zwecks Errichtung eines Denkmals für die Nachwelt)

  • weil ich mich gegenüber anderen profilieren möchte (Kinder als Statussymbol)

  • weil die biologische Uhr tickt (Torschlusspanik: Ich muss doch noch ein Kind haben; wenn nicht jetzt, wann dann?)

  • weil ich meine Partnerschaft retten möchte (Kinder als Beziehungskitt)

  • weil es mein Kind besser auf die Reihe bekommen soll als ich, z. B. ein bestimmtes Studium abschliessen (Projektion unerfüllter Wünsche auf das Kind)

  • weil ich im Alter nicht allein sein möchte (Kinder als Beschäftigungstherapie bzw. Langeweile-Killer)

Alle diese Gründe sind entweder nicht mehr zeitgemäss oder irrational. Oder sie basieren auf einem sehr egoistischen Werteverständnis.

Endlich: die Pro-Argumente

Nun aber, um zu einem versöhnlichen Abschluss zu kommen, immerhin noch drei Gründe, die aus meiner Sicht für ein Leben mit Kindern sprechen.

Erstens: Kinder haben die Fähigkeit, uns Erwachsene die Welt mit anderen Augen sehen zu lassen. Sei es aufgrund ihrer Fantasie, ihrer Unvoreingenommenheit oder ihres Entdeckungsdrangs – Kinder schaffen es, genau dann einen Perspektivenwechsel herbeizuführen, wenn wir, die vielleicht längst zu abgestumpften Arbeits- und Pflichterfüllungsmaschinen verkommen sind, einen solchen am dringendsten brauchen.

Zweitens: Nachfolgende Generationen werden mit der Welt vermutlich ganz anders umgehen, als wir derzeit mit ihr umspringen. Bestenfalls, und darin liegt die Hoffnung, werden sie die Welt zu einem besseren, freundlicheren Ort machen. Kinder sind also notwendig, soll die Spezies Mensch auf unserem Planeten eine langfristige Zukunft haben.

Drittens: Wenn man Kinder hat, geht es zu einem grossen Teil darum, zu geben – so steht es oben im Zitat. Dieses Geben, die bedingungslose Fürsorge und Liebe, die wir einem Geschöpf zukommen lassen können, hat mit Selbstlosigkeit zu tun, ist also altruistisch motiviert. Und genau darin, in uneigennützigen und aufopfernden Handlungen zugunsten eines anderen Menschen, liegt eine ungeheure Kraft. Eine Kraft, die uns allen zugutekäme, wäre Altruismus bloss wieder etwas mehr «en vogue», auch über Familienbande hinaus. Aber solange dies nicht der Fall ist, können wir selbstlose Handlungen immerhin schon mal unserem Nachwuchs angedeihen lassen – für mich wäre das jedenfalls ein guter Grund fürs Kinderkriegen.

Bestimmt gibt es noch andere, weitaus weniger philosophische Argumente, die fürs Kinderhaben sprechen.

In der Summe werden die Pro-Argumente sowie mein persönliches Umfeld unter Umständen dazu führen, dass ich mir mittelfristig vielleicht doch noch ein Leben mit Kindern vorstellen kann.

Dazu müsste ich jedoch erst einen richtigen Kinderwunsch entwickeln. Ausserdem wäre es auf die Dauer wohl unerlässlich, etwas mehr Ruhe und Beständigkeit in meinen derzeit recht unsteten Lebenswandel zu bringen.

Doch gerade die Freiheit und Unabhängigkeit, die mit diesem Lebenswandel einhergehen, schätze ich im Moment sehr.

Ich kann mich innerhalb dieses Gefüges herrlich um mich selbst kümmern (um das Zitat noch ein letztes Mal zu bemühen). Und diese Selbstfindung habe ich derzeit anscheinend nötig. Somit ist klar, dass ich meinen Status als kinderfreie Person bis auf Weiteres beibehalten werde.


Patrick Jordi

*1987, geboren und aufgewachsen im bernischen Langenthal, leitete zuletzt die Marketing- und Kommunikationsabteilung einer mittelgrossen Schweizer Pommes-Frites-Fabrik. Inzwischen ist er zu seinen journalistischen Wurzeln zurückgekehrt und setzt eigene Schreibprojekte um; oder er arbeitet als freischaffender Berichterstatter und Lektor. Freiheit und Flexibilität sind dem 35-Jährigen wichtig, denn auf arbeitsintensive Phasen lässt er gerne mehrere Wochen oder Monate des Reisens folgen. Seine letzte Tour führte ihn durch Zentralamerika, wo er als Backpacker während zweier Monate in Guatemala, Belize und Honduras unterwegs war. patrickjordi.ch

Gastautor*in

Danke liebe Gastautorin, lieber Gastautor, dass du deine Geschichte mit uns teilst. Möchtest auch du, liebe Leserin, lieber Leser deine kinderfreie Geschichte hier lesen? Dann melde dich bei uns.

Zurück
Zurück

Widersetze ich mich der gesellschaftlichen Verantwortung?

Weiter
Weiter

Alleine altern