Für mich und ein Kind sorgen? Unvorstellbar für mich als Autistin
Die Geschichte von Sabrina
Ich war immer schon davon überzeugt, anders zu sein. Anders zu fühlen, zu denken und schneller am Limit zu sein als andere. Dann fand ich heraus, dass ich Autistin bin. Es liegt in meinem Naturell, alles bis ins kleinste Detail zu überdenken und planen zu wollen. Das mit einem Kind? Für mich unvorstellbar.
Die wichtigste Entscheidung, die ich für mich selbst getroffen habe, betrifft meine Haltung zum Mama-Sein. Für mich steht ganz klar fest, dass ich keine Kinder haben will. Nicht, weil ich nicht lieben oder fürsorglich sein kann, sondern weil mein Autismus und die daraus resultierende autistische Wahrnehmung eine bedeutende Rolle in dieser lebenswichtigen Entscheidung spielen.
Autismus bedeutet für mich, dass meine Wahrnehmung der Welt intensiv und oft überwältigend ist. Ich nehme die Umwelt anders wahr, als es die meisten Menschen tun. Geräusche, Gerüche und Berührungen sind viel intensiver und können schnell zu einer Reizüberflutung führen. Das geschieht im Alltag leider oft – und das bereits ohne Kinder. Das Leben mit Kindern ist aber noch lauter und noch chaotischer. Man ist etlichen unvorhersehbaren Geräuschen und Situationen ausgesetzt. Vor allem aber auch ist der Alltag mit Kindern von vielen sozialen Interaktionen geprägt. Der Austausch mit anderen Eltern, die Teilnahme an Veranstaltungen, unzählige Gespräche und vieles mehr. Tag für Tag in solch einer Umgebung zu leben, fühlt sich für mich nicht befriedigend an.
Bei der Verarbeitung sozialer und emotionaler Signale haben die meisten Menschen im Autismus-Spektrum Schwierigkeiten. Ich bin der Ansicht, dass es viel Empathie erfordert, Kinder zu erziehen. Ausserdem wird von Eltern die Fähigkeit vorausgesetzt, sich auf die emotionalen Bedürfnisse von Kindern mit Leichtigkeit einlassen zu können. Ich bin durchaus fähig, mich um meine eigenen Bedürfnisse und die meiner Mitmenschen zu kümmern. Dennoch empfinde ich die emotionalen und sozialen Anforderungen der Elternschaft als überwältigend. Ich bin überzeugt davon, dass ich in dieser Hinsicht an meine Grenzen stossen könnte.
Eigene Grenzen respektieren
Auch das Bedürfnis nach Struktur, Routine und Vorhersehbarkeit ist bei mir typisch autistisch vorhanden. Kinder bringen allerdings Unvorhersehbarkeit und ständige Veränderungen in den Alltag. Die Flexibilität, die in der Elternschaft erforderlich ist, um mit unerwarteten Situationen umzugehen, stellt für mich eine grosse Herausforderung dar. Ich plane meinen Alltag gerne im Voraus. Wenn ein Kind dann plötzlich krank wird, spontanerweise Freundinnen oder Freunde nach Hause zum Spielen oder gar zum Übernachten mitbringt, erfordert dies viel Anpassungsfähigkeit. Ungeplante Abweichungen und intensive Reize in meinem Alltag führen zu einem enormen und erschöpfenden Spannungszustand, dem ich Kinder nicht aussetzen möchte.
Die Bedürfnisse von Kindern sind jedoch permanent vorhanden und erfordern ständige Aufmerksamkeit. Um mich selbst gesund und ausgeglichen zu halten, brauche ich Zeit für mich, um mich zu regenerieren und meine „Batterie aufzuladen“. Und dann sind da noch die eigenen Grundbedürfnisse, die erfüllt werden müssen wie duschen, essen, mein Dach über dem Kopf zu unterhalten, um nur einige davon zu nennen. Und wenn ich diese alltäglichen Aufgaben verrichten muss, sehe ich all die einzelnen Schritte dieser Aufgabe vor meinem inneren Auge. Ich muss mich fürs Duschen ausziehen, ins kalte Wasser stellen, meine Haare shampoonieren, zurück in die Kälte, mich anziehen, usw. Bei jeder Aufgabe sehe ich alle Einzelaufgaben und sensorischen Herausforderungen, denen ich ausgesetzt bin. Der Alltag saugt bereits so viel Energie, sodass Arbeit, Menschen treffen oder anderen Verpflichtungen nachzugehen mich schnell überfordern. In der Elternschaft ist diese Art der Selbstfürsorge oft leider schwer umsetzbar, da Kinder viel Energie und Aufmerksamkeit erfordern. Und wenn mein eigener Alltag bereits so viel Kraft erfordert, kann ich nur schwer daran denken, noch für (ein) weitere(s) Lebewesen zu sorgen.
Diese unglaubliche Verantwortung, die mit der Elternschaft einhergeht, ist eine lebenslange Verpflichtung. Als autistische Person habe ich ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle und die unvorhersehbare Natur der Elternschaft entspricht nicht meinen Vorstellungen. Diese Verantwortung würde mich möglicherweise überfordern und meine Fähigkeit, mein Leben nach meinen eigenen Bedürfnissen, Energiekapazitäten und Grenzen zu gestalten, stark einschränken.
Bewusste Entscheidung gegen Kinder
Letztlich habe ich mich bewusst dazu entschieden, keine Kinder zu wollen, weil ich der Meinung bin, dass ich als autistische Person besser in der Lage bin, ein erfülltes und glückliches Leben zu führen, wenn ich meine Energie auf mich selbst und meine persönlichen Bedürfnisse fokussieren kann. Das bedeutet nicht, dass jede autistische Person nicht dazu in der Lage ist. Ganz im Gegenteil. Autismus ist ein Spektrum und jede:r individuell. So auch ihre / seine Empfindungen und Intensität der Wahrnehmung.
Und die Angst vor solch einem einschneidenden, unerwarteten und nicht planbaren Schritt ist grösser, als dass es das Bedürfnis nach Familienplanung sein könnte.
Ich liebe mein unabhängiges Leben und dass ich meinen Alltag Schritt für Schritt planen kann. Ich liebe es noch mehr, mir Zeit für mich zu nehmen und für meinen Energiehaushalt zu sorgen. Deshalb ist es für mich als Autistin die richtige Entscheidung, keine Kinder zu bekommen.
Danke vielmals liebe Sabrina, dass du deine individuelle Geschichte mit uns und unserer Community teilst!!
Sabrina
ist Autistin und hat sich aktiv gegen Kinder entschieden.