Zu wenig Babies?

Sie ist in aller Munde in den vergangenen Wochen: die sinkende Geburtenrate. Je nach Medium ist das Ganze unheimlich dramatisch. Die Wirtschaft in Gefahr, das Rentensystem in Schieflage … Und wer ist schuld? Na wir, die kinderfreien Menschen natürlich. Meist Frauen, denn schliesslich wird die Rate in «Kind pro Mutter» ausgewiesen – und in Interviews zum Thema werden meistens nur Frauen gefragt, warum sie denn keine oder nicht mehr Kinder wollen.

Tiefe Geburtenraten weltweit

Der sogenannte «Schwellenwert für die Bevölkerungserneuerung» beträgt 2.1 Kinder pro Frau. Mit dieser Geburtenrate ist alles gut. Doch schon seit den 70er-Jahren sinkt dieser Wert kontinuierlich. Laut Bundesamt für Statistik lag er 2022 bei 1.4. Das ist die tiefste Geburtenrate seit 2001. Und dieser Trend ist nicht nur in der Schweiz zu beobachten, sondern fast weltweit. 

In Südkorea sind es 0.8 Kinder pro Frau, in China 1.2 und in Japan 1.3. Und – was mich persönlich am meisten erstaunt – in Italien und Spanien liegen die Werte bei weniger als 1.3 und sind somit die tiefsten in Europa! Was ist los mit «la famiglia»? (Quelle: swissinfo.ch)

Warum braucht’s mehr Kinder?

Die Frage ist: Warum ist das so schlimm? Der «Swiss Overshoot Day» ist schon vorbei für dieses Jahr. Der war nämlich am 27. Mai. Das ist der Tag, ab dem wir – würde die ganze Welt wie die Schweiz wirtschaften, konsumieren etc. – auf «Pump» leben (watson.ch). Also ist es doch gut, wenn die Geburtenrate und somit die Weltbevölkerung stagniert oder sogar sinkt. Die Natur dankt. Oder nicht?

Das Problem ist eben nicht die Natur, sondern die Wirtschaft.

Denn unser modernes kapitalistisches System ist auf Wachstum ausgelegt. Und wenn keine jungen Arbeitskräfte nachrücken, geht dieses System nicht auf. Der Fachkräftemangel ist heute schon ein Problem und wird sich zuspitzen, wenn weniger Junge nachrücken. Auch unser Rentensystem ist so aufgebaut, dass die Jungen für die Alten sorgen in dem sie in die 1. Säule einzahlen (das gilt für die Schweiz). Dieser Generationenvertrag steht auf dem Spiel, wenn es mehr Alte als Junge gibt. Daher die Panik um die Geburtenrate.  

Um nicht zu politisch zu werden, verzichte ich hier auf einen Abstecher in Richtung Kapitalismuskritik. Nur ein Gedankenanstoss dazu, und den habe ich schon im Artikel «Widersetze ich mich meiner gesellschaftlichen Verantwortung?» angetönt: Ist es wirklich richtig, dass alles von Wachstum abhängt? Auf Kosten unserer Umwelt? Und kommen vielleicht auch einfach am falschen Ort Kinder auf die Welt?

Mögliche Gründe für den Geburtenrückgang 

Doch warum kommen weniger Kinder auf die Welt? Hier mögliche Gründe, für die nur noch 1.4 Kinder pro Frau in der Schweiz: 

  1. Muttersein ist hierzulande nicht einfach.
    Der Gender Pay und Pension Gap sind beispielsweise primär durch die Motherhood Penalty zu erklären. Hierzu auch der Artikel «Ich will keine Mutter sein». Kinderkriegen ist kein Kinderspiel! Zuerst muss man schwanger werden (was nicht so einfach ist, wie einige vielleicht denken), dann muss man 9 Monate Schwangerschaft durchstehen. Immer mehr Berichte gibt es, wie traumatisch viele Geburten ablaufen. Und dann darf man sich jahrelange um ein Kind kümmern, dessen primäre Ansprechperson immer noch meist die Mutter ist. Ich persönlich verstehe sehr gut, dass das nicht jede Frau will! Und im Übrigen auch nicht jeder Mann – auch für Väter ändert sich einiges im Leben, sobald ein Kind da ist.

  2. Kinder sind extrem teuer.
    Man sagt nicht umsonst, dass man statt einem Kind auch 16 Katzen haben könnte. Pro Jahr! Laut swisslife.ch kostet ein Kind bis zum 20. Lebensjahr 370'000 Franken. NICHT mitgerechnet sind die viel bedeutenderen indirekten Kosten, also z. B. für die Kinderbetreuung oder die Lohn- und Renteneinbusse wegen Teilzeitarbeit. Daher gilt die Faustregel von «1 Kind = 1 Million Franken». Natürlich – wenn man ein Kind will, spielen finanzielle Überlegungen meist keine oder eine geringe Rolle. Aber wenn man vielleicht noch unsicher ist, kann dies durchaus ein Faktor sein (bekb.ch).

  3. Wir können entscheiden.
    Die Entscheidungsfreiheit, die wir heute haben, ist meiner Meinung nach der Hauptgrund, dass sich einige Menschen heute gegen Kinder entscheiden. Noch vor 100 Jahren war es undenkbar, dass man keine Kinder hat. Man resp. Frau konnte es auch kaum verhindern. Das Kondom wurde 1855 erfunden, die Pille 100 Jahre später. Und dann kommt die gesellschaftliche Erwartung hinzu – die wir Kinderfreien bis heute spüren.

    Seit rund 70 Jahren können die meisten Frauen (längst nicht alle haben Zugang zu Verhütungsmitteln) entscheiden, ob sie schwanger werden möchten oder nicht. Vielleicht wäre die Geburtenrate seit 500 Jahren tief, hätten wir schon damals Zugang zu sicherer Verhütung gehabt? Und je mehr der kinderfreie Lebensstil normalisiert wird (wir arbeiten dran 😉), desto mehr wird dieser Punkt relevant.   

  4. Die Familie als einziges Lebensmodell ist passé.
    Um Kinder zu zeugen, braucht es aus biologischer Sicht zwei. Und meistens sind diese zwei Menschen ein Paar. Doch: Ist die perfekte Familie mit Mami, Papi, zwei Kindern, idealerweise ein Mädchen, ein Junge, vielleicht gar nicht der perfekte Lebensentwurf für alle? Schaut man sich die Scheidungsrate an, steigt diese seit 1970 drastisch an. Laut dem Bundesamt für Statistik lassen sich 2 von 5 Ehepaaren wieder scheiden.

    Ist man auf Social Media in der kinderfreien Bubble unterwegs, stösst man unweigerlich auf Menschen (meist irgendwelche Dudes mit Mikrofon), die beklagen, wie der Feminismus die Familie zerstört habe. Und dies der Anfang vom Ende sei. Das System war wohl nicht soooo stabil, wenn es auseinanderbricht, sobald beide Teile der Partnerschaft gleiche Rechte haben sollen. 😉 Kein Wunder also, dass mittlerweile nebst der klassischen Familie viele weitere Lebensmodelle gelebt werden und so neue Perspektiven und Rollenbilder entstehen.

Die Quintessenz?

Zusammenfassend lässt sich wohl sagen, dass die sinkende Geburtenrate ein vielschichtiges Thema ist. Während die Medien oft ein düsteres Bild zeichnen und den wirtschaftlichen Kollaps prophezeien, sollten wir nicht vergessen, dass - wie eingangs erwähnt - eine stagnierende oder sinkende Bevölkerung auch positive Aspekte haben kann, besonders in Bezug auf unsere Umwelt und die Ressourcen unseres Planeten.

Vielleicht ist es an der Zeit, zu erkennen, dass sich die Lebensentwürfe und die Bedürfnisse von Menschen verändert haben und wir unser System der neuen Realität anpassen müssen.

Aber vorerst scheint es für viele einfacher, den Geburtenrückgang zu beklagen und Kinderfreie zu beschuldigen, als nach zeitgemässen Lösungen zu suchen. 

Soweit mein Senf zum Thema Geburtenrate. Was ist eure Meinung? Warum gibt’s weniger Kinder? Wo liegt der Hund begraben?

 
Nadine

Seit 2019 bewusst kinderfrei und zufrieden mit der Entscheidung.

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Kinder waren nie die Antwort

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Abschreckung statt Anziehung